Punkt Sieben: „Wie können wir noch besseren Journalismus machen?“

„Wie können wir noch besseren Journalismus machen?“

Diese Frage diskutierte Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online, beim Diskussionsforum Punktsieben in Walldorf

Walldorf. (seb) „Wir haben gelernt, dass Journalisten das Gefühl für die Hälfte eines ganzen Landes verlieren können“: Das hat Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online, unter anderem durch die Wahl Trumps zum US-Präsidenten, den kommenden Austritt Großbritanniens aus der EU oder die politischen Umwälzungen in Frankreich feststellen müssen.
Zu abgehoben? Lebensfremd? In der eigenen „Filterblase“ gefangen, die nur Informationen durchlässt, die die eigene Haltung bestärken?
Das Gegenteil sei der Job der Journalisten, betonte Wegner. Bei Punktsieben, dem Diskussionsforum der evangelischen Kirchengemeinde Walldorf, sprach der studierte Physiker und Philosoph zum Thema „Journalismus unter Druck“ und stellte unter anderem die Lehren vor, die er und sein Team daraus gezogen haben.
Unter anderem brach er – überraschend, auch für ihn selbst – eine Lanze für den Lokaljournalismus. Rentner, die das Freibad in Oberscheld retten, der Konflikt des TSV im hessischen Laufdorf, Probleme älterer Leute, als die Bankfiliale im ländlichen Dorf schloss: „Das sind unsere meistgelesenen Geschichten.“ Für eine Redaktion mit 80 bis 90 Mitarbeitern, die ihren zwölf Millionen Lesern eigentlich über die ganze Welt berichtet, eher ungewohnt. So etwas „ist doch nicht weltbewegend“ – oder?
Von jeher gelte Zeit Online im Vergleich zu anderen Redaktionen als „zu langsam“, zu überlegt, erklärte der 47-Jährige. Man recherchiere zu viel, biete „viel zu lange Texte“ mit zu komplizierten Inhalten. „Aber es funktioniert super, wir verdienen Geld“ – nicht selbstverständlich im Online-Journalismus.
Da die Gesellschaft zu verlernen drohe, miteinander zu reden, investiere Zeit Online „in eine zivilere Diskussionskultur“: Statt Online-Kommentare abzuschalten, wie andere große Zeitungen, lasse man sie durch ein eigenes Team moderieren, auch wenn Bösartiges oder sogar rechtlich Fragwürdiges darunter sei. „Wir brauchen offene Kommentarräume.“ So erhalte man auch sofort Rückmeldungen über die eigene Arbeit, über Fehler oder blinde Flecken. Den Dialog mit den Menschen wachzuhalten, ihnen mit einer gewissen Empathie zu begegnen, sei auch „eine Frage der Glaubwürdigkeit“.
Ebenso wie der Verzicht auf eigene „Propaganda“, weder gegen Trump noch für die EU, alle Informationen müssten auf den Tisch, so Wegner. Transparenz zähle auch dazu: Zeit Online mache in verworrenen, sich noch entwickelnden Lagen, etwa bei Anschlägen, immer deutlich, „was wir wirklich wissen“ und was nicht. Wegner räumte mehrfach ein, dass das Bemühen um Aufrichtigkeit und Authentizität innerhalb der Redaktion permanent kontrovers diskutiert werde.
Mehrere Projekte, um direkt in Kontakt mit den Menschen zu kommen, wurden überdies gestartet. Heimatreportagen gehören dazu: Wegner selbst, in Bretten aufgewachsen, habe von dort berichtet, andere Kollegen aus Calw oder Wismar. Zudem habe man sich ein Netzwerk von Lokalreportern aufgebaut: „Wir müssen Leute treffen, die wir früher nie getroffen haben“, so Wegner, kleine Geschichten, mit denen sich die Leute überall identifizieren könnten, bringe man in großem Stil.
In den „Konfrontationen“ mit Mitgliedern des Punktsieben-Teams und in der Diskussion mit den zahlreichen Zuhörern stellte sich Wegner auch Kritik. Etwa der, dass manche Journalisten ihre eigene Meinung für zu wichtig halten und sich bei der Recherche nur das suchen, was sie bestärkt. Oder dass – gerade in Berlin – zu enge Verflechtungen mit der Politik drohen. Wegner betonte: „Wir geben uns Mühe, unabhängig zu berichten.“ Und man lege die Recherche-Ergebnisse immer „mit einer gewissen Demut“ vor.
Ein anderer Zuhörer vermisste eine klare politische Haltung in der heutigen Medienlandschaft, eine Orientierung für die Menschen. Hier erwiderte Jochen Wegner, dass die Zeit insgesamt ein Medium sei, „das alle Thesen gleichzeitig vertritt“ und manchmal These und Antithese zugleich auf die Titelseite hebe: „Diese Debattenkultur hat uns groß gemacht, davon brauchen wir mehr.“
Die Krise konnte Wegner auch als Chance sehen. Er berichtete von Kontakten zu Kollegen hier und in den USA: Niemand frage mehr: „Was ist das nächste Geschäftsmodell?“, sondern: „Wie können wir noch besseren Journalismus machen?“ Parallel zeige sich, dass in Krisenzeiten niemand nur von sozialen Medien und Internetforen informiert werden wolle: Dann wendeten sich die Menschen an etablierte, seriöse Medien.

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