Berlinfahrt mit der Gemeinde

Jüdisches Museeum Berlin

Wir waren in Berlin

Der neunte November. Die Ausrufung der ersten deutschen Republik, die Pogromnacht, aber auch der Mauerfall. Im Zentrum immer: Berlin!

Auch wenn wir als Gruppe meist junger Erwachsener der evangelischen Kirchengemeinde Walldorf nur zu Beginn des Novembers die freie Zeit nutzen können, ist das Ziel also doch fraglos: Berlin, wir fahren nach Berlin – als logische Erweiterung unserer Geschichts- und Gegenwartserfahrungen aus Israel und Buchenwald in den vergangenen Jahren. Es stehen Punkte der Erinnerung auf dem Programm, die sich im Rahmen der deutschen Geschichte der letzten hundert Jahre all so sehr in Berlin bündeln. Ein letztes Mal organisiert von unserem scheidenden Diakon Oliver Tuscher. Programmkürzungen sind zwar der Pandemie geschuldet, aber auch deshalb gibt es Spielraum für eigene Erfahrungen in diesem Schmelztiegel geschichtsträchtiger, städtebaulich interessanter Architektur und einer breit gefächerten Gesichtermischung lifestyle-bewusster Großstadtpixel unterschiedlichster Nationalitäten und Kulturen.

Wir wohnen in der Jugendherberge am Bahnhof Ostkreuz, einen Steinwurf entfernt vom östlichen Drehkreuz der S- und U-Bahnen. Richtigerweise also: Wir fahren in Berlin! Die pulsierende Metropole ist ein Erlebnis für sich, wenn man sich dem ÖPNV anvertraut. Das schematische Streckennetz ist genauso bunt wie die Stadt um uns herum. Und es bedarf schon einiger Koordination, sich die richtige Strecke zurecht zu legen, denn der Durchmesser der Stadt hält mit 50 Kilometern durchaus auch Umwege bereit.

Die neugebaute U5 unter den Linden zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor bringt uns direkt zum Humboldt-Forum, alte Stadtschlossfassade mit ebenso modernem Interieur wie der gesamte nach der Wende neu erbaute und gestaltete Potsdamer Platz mit Bahnzentrale und Sony-Center. Als Orientierungsanker thront über allem der Fernsehturm am Alex. Alle drei Orte halten für uns Aussichtsplattformen bereit, auf denen wir bevorzugt abends die Lichter der Stadt ordnen.

In der Gruppe ergibt sich als Anknüpfungspunkt an die Vergegenwärtigung des Holocaust aus vorherigen Besuchen in Yad Vashem (Israel) und Buchenwald der Besuch des jüdischen Museums. Wie aber bereits in Israel erfahren, fokussiert sich der jüdische, auch deutsch jüdische Blick bei weitem nicht nur auf das erteilte Leid in Zeiten des Nationalsozialismus, sondern zeugt von einer immer währenden Neufindung des jüdischen Volkes im Laufe seiner Jahrtausende alten Geschichte, so auch in Deutschland seit über 1700 Jahren. Allein durch die Konzeption des Architekten Daniel Libeskind führt uns die Ausstellung auf Wege mit vielen, hier baulichen, Wirrungen über die Achsen “Kontinuität” für Heimat und “Exil”. Eine dritte kreuzende Achse “Holocaust” führt in eines mehrerer “Voids” – entleerter Einschlüsse im Gebäude – die den Gedanken mehr Freiheit lassen als jedes Exponat. Der Shoah ist selbst ein beklemmender Teil gewidmet, der für unsere Gruppe den Kreis schließt zu den Erfahrungen der Vorjahresreisen.

Ohne diesem kurzen Überblick das Wesen eines Reiseführers zu geben, ist die Beschäftigung mit dem Streckennetz von Bussen und Bahnen gleichzeitig auch ein Spiegel unterschiedlichster Aktivitäten, die wir in unterschiedlichen Zusammensetzungen als Bereicherung ansehen: Zoo und Aquarium mit chinesischen Pandas. Die “Arise”-Show im Friedrichstadtpalast. Der Bruderkuss Honeckers und Breschnews an der East-Side-Gallery als fußläufiger Ausflug vor dem Abendessen. Das neue Regierungsviertel mit seinem altehrwürdigen Reichstag. Butterbrezeln in der Landesvertretung Baden-Württembergs verköstigen.

Mit dem Besuch der Topographie des Terrors einiger kommen wir auf die Geschichte der deutschen Teilung zurück. Intensiv durften wir ihre bittere Ausgestaltung in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße erleben. Es ist eine eindringliche Erinnerung an eine Zeit jenseits der Selbstverständlichkeit von Freiheit in unserem Land. Und doch zeigt sich der Schrecken im museumshaften Nachzeichnen des Todesstreifens der Berliner Mauer nur bedingt. Nun lässt selbst im Mauerpark der Flohmarkt das damalige Leid der Unfreiheit im Trubel des Lebens verblassen. Dennoch dienen die wichtigen Denkanstöße der Gedenkstätte eindringlich als Warnung und mahnen zur Wachsamkeit. Die Versöhnungskirche ist noch im Jahr 1985 ihrer Lage mitten im Grenzstreifen der Mauer zum Opfer gefallen. Heute dürfen wir im Garten einer am selben Platz erbauten kleinen Kapelle der Gemeinde eine Andacht feiern. So ist die Verbindung von Zeitgeschichte und Gegenwart gelungen.

Haben wir im Rahmen unserer Studienfahrten den Faden der Berührungen mit jüdischem Leben in Berlin weiterspinnen dürfen, wird in dieser Metropole aber der Blick darüber hinaus in vielen Facetten deutscher Geschichte fortgeschrieben. Pfarrer Uwe Boch hat in Berlin sozusagen verantwortlich den Staffelstab von Oliver Tuscher übernommen. So bleibt es spannend, was mit der Kirchengemeinde im nächsten Kapitel zu erleben sein wird.

 

Ort der Versöhnungskirche

 


Fotos: Lehmann

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