Punkt Sieben vom 22. Januar 2023 mit Thomas Kaspar: Die lauten Minderheiten

Am 22. Januar war das Gemeindehaus erneut gut gefüllt. Thomas Kaspar, Chefredakteur der Frankfurter Rundschau war von „Punkt Sieben“ eingeladen. Es ging um das, was Deutschland auch in den letzten beiden Wochen beschäftigt hat: Protestformen, ihre Gründe und Ziele, und die Menschen, die sich engagieren.

Kaspar geht davon aus, dass ein grundlegendes Problem in unserer Gesellschaft eine Individualisierung ist, die den einzelnen Menschen nicht mehr bezogen auf die Gesellschaft ansieht. Die Einzelnen schauen in erster Linie nach ihrem eigenen Wohlergehen. In der Folge lässt die Solidarität in der Gesellschaft nach. Das wiederum hat zur Folge, dass das Engagement, von dem Institutionen wie Politik, Kirche, aber auch Vereine usw. leben, nicht mehr gegeben ist.

Das zeigt sich laut Kaspar auch in der Protestszene: Proteste sind nicht mehr wie früher gebunden an bestimmte Milieus. So sind beispielsweise auch die Klima-Proteste derzeit nicht mehr reine Jugendproteste, sondern es vermischen sich viele Anliegen in der Gesellschaft und führen zu gemeinsamem Protest.

Individualisierung hat dabei den Nachteil, dass sie instrumentalisiert werden kann. Bei Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien zeigt sich: Menschen, die scheinbar zu den „Verlierern“ in der Gesellschaft gehören, lassen sich vor Karren spannen, die ihren individualisierten Problemen Lösung versprechen – und ziehen sie dann auch. Außerdem zeigt sich nach Corona auch die Gesellschaft in Mitteleuropa in einer größeren sozialen Zerrissenheit als vorher und die Folgen des Ukraine-Kriegs etwa tun das Ihre dazu.

Kaspar sieht als Lösung vor allem einen langen Kampf um die Wiederherstellung von Solidarität in der Gesellschaft:

Dazu müssen seiner Meinung nach zunächst einmal Diskussionsräume geboten werden. In ihnen sollten Alternativlösungen immer mit gedacht sein und dieses Denken sollte zugelassen werden. Kontaktpunkte müssen geschaffen werden, die Politik und die Einzelnen wieder näher zusammenbringen. Der Wert von Institutionen zur Schaffung von solidarischem Leben muss herausgearbeitet werden. Und schließlich sollte beim Umgang mit protestierenden Bürgern darauf geachtet werden, dass weniger die Protestformen als vielmehr die Ursachen des Protests in Blick genommen werden. Erst dann ist Solidarität schaffender Dialog wieder möglich. Das alles braucht Zeit und einen langen Atem, ist aber unerlässlich für eine auch in Zukunft funktionierende Gesellschaft.

In der anschließenden Diskussion hat sich gezeigt, dass Zuhörer:innen ähnliche Fragen haben und in ihren eigenen Lebenszusammenhängen darüber nachdenken. Letztlich wird es darauf ankommen, Engagement und Teilhabe in den kleinen, aber auch den größeren gesellschaftlichen Gruppen zu fördern und immer wieder dazu zu motivieren.

 


Foto: Rainer Dörlich

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